_Neue Konflikte und kulturelle
Identität
Nach dem Ende der bipolaren Blocksituation in der Welt, nach der
Implosion des sozialistischen Lagers, in den Zeiten eines ungebremsten
globalen Neoliberalismus unter Führung der USA sind die Widersprüche
unserer Welt nicht geringer geworden, sondern im Gegenteil: Sie
eskalieren auf allen Gebieten. Unsere Welt wurde nicht friedlicher,
sondern der Krieg totaler.
Das Ende des Gleichgewichts des Schreckens lässt alte Konflikte
wieder aufleben und neue Kriegsherde entstehen. Wieder / immer stehen
sich Menschen unterschiedlicher Nationalität als Feinde gegenüber
– aufgerüstet mit allen unzeitgemäßen historischen
Vorurteilen, die in der modernen Welt der globalen Kommunikation
schon überholt schienen. Ungezügelt starke Kräfte
(politische, wirtschaftliche und militärische) wirken auf die
Menschen ein und fordern ihre totale Anpassung.
Kulturelle Identität und ethnische Traditionen werden rigoros
infrage gestellt und weggefegt. Gleichzeitig sind sie die Rückzugsgebiete,
aus denen heraus die konservativen, bisweilen fundamentalistischen
Gegenattacken gegen die einwirkenden Veränderungen in der Welt,
geführt werden. Äußerst wirksam werden bedrohliche
Bilder von Fremden, von Eindringlingen, vom Feind
produziert – und der Abwehrkampf, der daraus abgeleitet wird,
duldet keine Einschränkung; er hält sich nicht an Regeln,
kennt keine Grenzen, keine Gesittung und Moral. Die totale Gesetzlosigkeit
scheint die gebräuchliche Antwort auf die totale Herausforderung
zu sein.
Unsere Arbeit im ITI u. besonders in unserem CIDC erhält
so eine neue, dringliche Notwendigkeit.
_Die Arbeit des CIDC
Stärker als in den vergangenen Jahren sind wir aufgefordert,
über alles Trennende hinweg, die Verbindung zu halten und kulturelle
Begegnungen zwischen den Theaterleuten direkt zu organisieren/ befördern.
Die Telekommunikation kann viel, ersetzt aber nicht die menschliche
Begegnung. Der Abbau von Vorurteilen ist der erste Schritt, um hinter
dem Feindbild das Bild des Menschen
entdecken zu können. Vor diesem Hintergrund startet das CIDC
ein Projekt mit dem Titel: "My unknown enemy" / "Mein
unbekannter Feind"
In einem mehrwöchigen Workshop sollten Theaterleute die Gelegenheit
haben, angesichts scheinbar unüberbrückbarer Abneigungen
und Widerstände, angesichts einer Barriere von Vorurteilen
und Hass sowie beiderseitiger negativer Erfahrungen im Umgang miteinander,
sich kennen und verständigen zu lernen und zeitgenössisches
Theater zu machen.
In der spielerischen Erfahrung mit dem Feind werden so neue Erfahrungen
gewonnen und Grundsteine einer möglichen Kultur des Dialogs
gelegt.
Dieser Begegnungsworkshop sollte nicht in einem der Länder,
sondern an einen "dritten Ort" stattfinden. Der Ort könnte
/ sollte ein Land sein, das selbst in einer ähnlichen Konfrontation
war bzw. ist. Z.B. wäre Dubrovnik in Kroatien eine Theaterstadt,
die selbst diese schmerzreichen Erfahrungen gemacht hat. Oder Nikosia.
Oder eine deutsche Stadt usw.
_Die Arbeit am Text
Der Workshop sollte nicht den trennenden Konflikt thematisieren
oder versuchen in diesem aktuellen /ewigen Streit urteilend einzugreifen
und Schuldzuweisungen zu machen. Die Künstler sollten sich
in der Arbeit an einem "dritten Gegenstand" treffen, an
einem Stück, einem Text o.ä. der geeignet ist, dass beide
Seiten ihre Identität und ihre konkreten Erfahrungen spielerisch
formulieren, der aber durchaus auch Ausweitungen auf das aktuelle
Konfliktpotenzial zulässt.
Dieser Ansatz hat sich bei meinem Workshop des Begleitprojekts
(bild.bau.stelle 2) zum diesjährigen Festival Theater der Welt
im Zusammentreffen von Schauspielern aus verschiedenen arabischen
Ländern und Deutschland ermutigend bewährt:
Zum Thema DER HELD arbeiteten wir mit dem Einakter Lessings "Philotas".
Es geht darum, über alles Trennende hinweg, im Bewusstsein
der eigenen kulturellen Identität, miteinander Theater zumachen.
Unter den Künstlern ist ein kritisches, souveränes Bewusstsein
zu fördern, das sich der Instrumentalisierung durch Feindbilder
entzieht und der Theaterarbeit in ihren Ländern Impulse geben
kann.
Die Auswahl sollte sowohl Theatergruppen als auch Gruppen von
einzelnen Theaterleuten umfassen und vom CIDC in Abstimmung mit
den jeweils nationalen ITI-Zentren getroffen werden. Die Theaterleute
sind als Künstler einzuladen und gelten nicht als Repräsentanten
staatlicher oder religiöser Organisationen oder Parteien ihrer
Länder.
Dieses Projekt sollte, unter Federführung des CIDC, von mehreren
Ländern getragen und langfristig in verschiedenen, aufeinander
aufbauenden und zueinander Bezug nehmenden Modulen entwickelt werden.
Zur Vorbereitung und Realisierung dieses CIDC-Projektes sollten
nicht nur die Länderzentren des ITI, sondern auch andere Korporationen
und Partner unterstützend gewonnen und einbezogen werden.
Alexander Stillmark
Juni 2002
|