_My unknown enemy

 

Kairo 2003 - Notizen zum Workshop


    "Und was könnte ich, was wollte ich werden? Ein Held!"

Am 27. November 2003 kommen ein Regisseur, eine Dramaturgin sowie eine Schauspielerin und ein Schauspieler aus Deutschland in Kairo an. Im Gepäck begleitet sie ein relativ unbekannter Held namens Philotas – der noch niemals in Kairo gewesen ist.

G.E. Lessing erzählt in seinem Trauerspiel eine sehr heutige Geschichte: Ein junger Mann ist in der Gefangenschaft des Feindes. Philotas will ein Held sein und glaubt, wenn er sein Leben freiwillig beendet, würde er dem Vater einen Vorteil im kriegerischen Kampf verschaffen. Sein Selbstmord soll dem Vater, dem Heimatland und den eigenen Überzeugungen zum Sieg verhelfen.

10 Tage lang kommen Schauspieler aus Kairo und Deutschland über das Thema des Helden miteinander ins Spiel und konfrontieren ihre persönliche Lebensrealität mit den Fragestellungen des 244 Jahre alten Textes.

Der erste Tag ist dem gegenseitigen Kennenlernen und der ersten Lektüre des Textes gewidmet. Nach einem großen Interesse im Vorfeld, nach dem wir schon befürchtet hatten Kollegen absagen zu müssen, kommen 15 Theaterleute aus ganz unterschiedlichen Gruppen und Gründen zum Workshop. Lilian, Fairoz, Mirette, Almir, Tarek, Shousha, Shady, Nefertari, Effat, Yasmine, Nader, Saleh, Maizza, Ghadir und Ghassen. Die deutschen Teilnehmer sind Elif und Fridolin sowie die Schweizerin Céline. Die Motivationen teilzunehmen sind ähnlich: alle wünschen sich Input aus einer anderen Theatertradition, um Anregungen für die eigene Arbeit zu bekommen. Es sind professionelle Schauspieler darunter wie Shousha (der Nachts am Nationaltheater mehrere Rollen im Hamlet probt) oder Ghassen, Tanz- und Schauspielstudenten wie Yasmine und Ghadir, die Nachmittags noch zu ihrem Unterricht gehen, Theaterwissenschaftsstudenten wie Fairoz, die eigentlich Bühnenbildnerin werden möchte oder Effat, die Regisseurin ist und ein Theaterwissenschaftsstudium in den USA absolviert hat. Saleh ist Regisseur und Schauspieler, hat in St. Petersburg studiert und mehrere Jahre in Kuwait an einer Theaterhochschule als Dozent gearbeitet. Man kennt sich und die Arbeit der Kollegen ein wenig, einige haben bereits miteinander gearbeitet. Elif, die türkischstämmige deutsche Schauspielerin hat Erfahrungen im Stadttheaterbereich und Kinder- und Jugendtheater, Fridolin arbeitet in der Berliner Freien Szene und Céline ist noch in der Schauspielausbildung. Eine bunte Mischung aus Erfahrung und Neugierde am Unbekannte.

Die meisten hatten den Text am ersten Tag noch nicht gelesen – bei einigen hatte es Überragungsschwierigkeiten mit der arabischen Datei gegeben – deshalb beginnt Alexander Stillmark mit der Lektüre – doch auf eine ungewöhnliche Art. Jeder soll nur einen Satz lesen und so schließt sich ein übersetzter, arabischer Satz an einen Originalsatz an. Es ist interessant zu sehen, wie die ägyptischen Kollegen sich dem ungewöhnlichen Text zuwenden, der in der hocharabischen Übersetzung offensichtlich schwer für sie zu sprechen ist, wie uns die Übersetzerin Hola erläutert. Doch das ist für die deutschen Schauspieler auch der Fall. Das Zusammentragen der Eindrücke bringt uns gleich in die Mitte des Themas: Philotas ist ein junger Königssohn, der Krieger sein möchte und durch seine unerfahrene Kühnheit beim ersten Kontakt mit dem Feind eine große Niederlage hat einstecken müssen. Der junge Held ist am falschen Ort zur falschen Zeit. Eine wichtige Frage wird gestellt: Darf man über Helden lachen?

Das Arbeitsprinzip ist der zwanglose Dialog, das neugierige Fragen und das lustvolle Spiel. Es wird in Arabisch und Deutsch mit dem Ziel gearbeitet, lebendige Szenen zu entwickeln, die von heute aus den scheinbar alten Text beleuchten und nachvollziehbar machen. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit sind die Boalschen Maschinen, die verhindern, dass die Schauspieler zu lange sitzen, denken und reden sondern sofort beginnen zu spielen und mit ihrem Körper auf die Suche nach dem Sohn Philotas, dem Lehrer Strato und dem Vater Aridäus gehen. Die Themen der Maschinen sind weit gefasst: Straßen- und Nachtleben, Sommerleben, das zur Phantasie über den Winter wird. Eine Philotas Maschine, die von den Träumen und Ängsten eines jungen Mannes erzählt. Eine Vater und eine Vaterlandsmaschine. Maschinen zu den Themen der Erziehung in der Familie und in der Gesellschaft. Politische Maschinen, die den Blick auf Deutschland, Ägypten und die USA spielerisch wie kritisch freigeben. Religionsmaschinen, die alle staunen lassen, weil man doch viel voneinander weiß. Die Maschinen geben immer wieder Anlass und Ermutigung Fragen an das Stück zu stellen.

Schnell werden aus einzelne Sätze aus Lessings Text zum Spielangebot: "So bin ich wirklich gefangen?" "Oh ihr Götter. Oh mein Vater." "Meine frühste Kindheit hat nie etwas anderes als Lager geträumt."

Die Schauspieler schauen sich gegenseitig zu. Die Spielweisen sind sehr unterschiedlich. Die deutschen Schauspieler behalten eher eine Nähe zur psychologischen Durchdringung, die ägyptischen gehen schneller in eine körperliche Expressivität. Spannend werden die Vermischungen. Elif und Saleh nähern sich über die Frage "Was ist denn ein Held?" einander und erzählen von der Doppelexistenz des Philotas als Sohn und Prinz. Auch Amir und Mirette: Sie sitzt auf seiner Schulter und hält den Kämpfer mit ihrem Intellekt im wahrsten Sinne des Wortes unterdrückt. Shousha und Effat improvisieren eindrücklich mit dem aus dem Text erfundenen Vorwurf "Dein Fehler!" und es bleibt offen, ob der Sohn oder der Prinz am Ende recht bekommen.

Die Fragen an denen entlang gearbeitet, gespielt und diskutiert werden ergeben sich aus dem Text und sind doch Fragen von heute:

  • Was sind Lebensträume?
  • Was hat es mit der Freiheit der Entscheidung auf sich?
  • Wie geht man mit Erwartungen um?
  • Gibt es einen Zwang zu handeln?
  • Wie lebt es sich in einer kriegerischen Welt?
  • Was ist ein Feind?
  • Was ist Hass?
  • Was ist Glück? Und was ist am Tag nach dem Sieg?

In einer abschließenden Präsentation am 7. Dezember wird nach zehn intensiven Tagen ein Einblick in die Arbeit gegeben und einzelne Momente und Maschinen werden vorgestellt – ohne jedoch eine Theateraufführung zu zeigen. Es sind eher Bilder und Gedanken zum Thema. Rund 25 Freunde und Kollegen bilden das Publikum und machen sich mit den entwickelten Szenen dieser interkulturellen Theaterbegegnung vertraut.

  • Der Traum des Philotas (Amir)
  • Begegnung mit dem Feind: Aridäus kommt (Effat und Elif)
  • Oh, war das knapp (Elif)
  • Skulpturen bauen zu Feindbildern: Man sagt, dies ist dein Feind
  • Mein Hass
  • Aber ich der Keim, die Knospe (alle)
  • Das Sterben: Der Held und sein inszenierter Tod (Céline und Ghassen)
  • Philotas-Parmenio-Körper (Fridolin, Céline, Shousha, Saleh, Amir, Yasmine)
  • Elif und Mirette lesen den Text

Sabine Brandes, Jan. 2004


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